visuelle information (1965/1995)

was ist die bedeutung des individuums für die gemeinschaft und was ist die bedeutung der gemeinschaft für das individuum? die gemeinschaft ist für das individuum insofern sinnvoll, als sie bedingungen liefert, die seine existenz vereinfachen. das individuum hat sinn für die gemeinschaft, solange seine existenz ihr nützlich ist. erweitert sich dieser nutzen zur entwicklung der gemeinschaft, so ist sein dasein sehr bedeutsam für sie. die entwicklungsaktivität wird beim individuum erst optimal, wenn die grösstmögliche freiheit im denken und handeln geschaffen wird. wir haben alle täglich als erste lebensbedingung damit zu tun, dieses zu verwirklichen und zu erhalten. diese freiheit wird erst sinnvoll, wenn das individuum die möglichkeiten, die sie ihm gibt, auch mit zum nutzen der gemeinschaft anwendet. es ist möglich, dass eine gemeinschaft nicht diesem bild entspricht. in diesem falle kann eine scheinbar gegen sie gerichtete tätigkeit doch nützlich sein für sie durch die beigesteuerte wirkung.

diese argumentation brauche ich, um die stellung des künstlers in der gesellschaft zu zeigen. wie jeder andere unterliegt er seiner gesellschaftlichen funktion, eine tatsache, die unserem dasein als soziales wesen innewohnt. wenn er sich ihr entzieht, so vollbringt er entweder eine ungesellschaftliche tat oder etwas stimmt nicht in der gesellschaft, in der er lebt. diese leistung ist kybernetisch betrachtet nur dann sinnvoll, wenn die wahl frei ist.

der künstler nimmt teil am lebenden prozess, den unsere gesellschaft darstellt, durch das produkt, das er liefert. die menge an information, die das kunstwerk gibt und die kommunikationsmöglichkeit, die es hat, sind in diesem zusammenhänge wertbestimmend dafür.

der oberstadtdirektor von hannover, herr wiechert, schlug als thema für einen gesprächsabend im jahre 1959 in der galerie seide "was kommt nach dem informellen?" den biblischen text aus hesekiel 8, vers 15, vor: "... und er sprach zu mir, menschenkind, siehst du das? aber du sollst noch grössere greuel sehen denn diese sind". sein vorschlag war in der damaligen situation vielleicht verständlich, heute aber verfehlt.

vor einigen jahrzehnten zeigte sich in der kunst eine starke tendenz zum widerstand gegen technik, masse, gesellschaft, wissenschaftliche betrachtungsart und gegen das rationelle. dass viele konservative es nicht höher bewertet haben, liegt wahrscheinlich an ihrer neigung, vor allem die ordnung zu wahren, an ihrer furcht vor anarchie und auch an der unkonventionellen form, in der sich dieser widerstand äusserte.

die situation hat sich nun geändert. endlich beginnt der künstler zu verstehen, was den psychologen längst geläufig ist, dass nämlich "der begriff der kreativität nicht das besondere pedestal verdient, auf das ihn unsere kultur stellt. [...] es gibt keinen prinzipiellen unterschied zwischen der kreativität - mit glorienschein - des künstlers, philosophen oder wissenschaftlers und dem alltäglichen werden unserer kreativität im täglichen leben, besonders in der menschlichen verständigung mit der sprache [...]. die tatsache, dass viele kreative menschen iniuitiv arbeiten, d.h. ihre wahl und ihre methoden nicht verdeutlichen können, ist sicher psychologisch interessant, macht sie aber auch nicht kreativer, als wenn sie es könnten. [...] unsere unbestimmtheiten, zweideutigkeiten und inkonsequenzen sind sicher typisch menschlich, es besteht aber kein grund, sie für das schaffen von neuen, wertvollen produkten als unersetzlich oder wesentlich zu halten." [A.D. de Groot, 'De programmering van het creatieve', in Mens en computer (Utrecht 1963) 176]

die konsequenzen dieser kenntnisse - natürlich zusammen mit anderen faktoren - bewirkten, dass sich das bild der kunst drastisch änderte und sich in ganz anderer richtung entwickelte. das hektische, das problematische und das vereinzelt menschliche, mitstammend aus der überschätzung des künstlertums, verschwand.

diese ausstellung gibt ihnen einen eindruck von dem, was entstand, was entsteht und was sich voll weiterentwickelt.

eines der kennzeichen der neuen tendenz ist das streben nach gesellschaftlicher integration. es ist eine positiv-neutrale reaktion auf die technischen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen entwicklungen in unserer kultur. die einheit des menschlichen daseins wird gezeigt in arbeiten, die unser eigenes leben vielseitig, manchmal buchstäblich wiederspiegeln und in arbeiten, in denen der künstler zurücktritt zugunsten des betrachters, wodurch dieser manchmal gelegenheit bekommt, an dem durch den künstler vorbereiteten kreativen prozess teilzunehmen. dies alles führte nicht zu einem neuen stil, sondern zu einer vielseitigen formenwelt, die sich eher als 'visuelle information' dann als 'kunst' im alten sinne, darstellt. eine anzahl von gruppen und richtungen verschiedenen ursprungs, die aber das oben gezeichnete bild gemeinsam haben, sind hier zusammengeflossen. ihre namen kennen wir: nouvelle tendence-recherche continuelle, zero = 0, antipeinture, neue konzeption, arte programmate.

es ist leicht, dazu sich noch weitere gleich sinnvolle und gleich unvollständige namen zu denken: objektive kunst, demokratische kunst, art pour tous, polyinterpretable kunst, integration. ich sage hier nicht ohne weiteres: diese kunst ist objektiv, insofern sie sich auf das objekt beschränkt und deshalb vorhandene formen und materialien in ihrem eigenen wert bestehen, oder sie ohne namhaften einfluss sich äussern lässt. sie ist mithin objektiv durch das oben angeführte, und weil der künstler nicht mehr einen standpunkt als mitteilende persönlichkeit einnimmt, sondern den betrachter/teilhaber freilässt in formen seiner eigenen auffassung. das ist also polyinterpretable kunst. diese, die möglichkeit, teilzuhaben und das verschwinden des podestes, auf dem der kunst und künstler so lange standen, macht sie in ihrem ursprung demokratisch. viele arbeiten werden durch viele geschätzt oder selber verfertigt werden können. der sinn ist eine 'kunst für alle' in wirklich kreativem sinn.

das wort 'integration' steht hier nicht nur für kunst und architektur wofür es schon oft falsch angewendet wurde, sondern soll so umfassend wie möglich aufgefasst werden. durch die neuen einsichten, durch den 'neuen idealismus', hat die integration platz auf allen erdenklichen gebieten des modernen lebens. viele arbeiten reflektieren die eigene umgebung und ihre veränderungen; wissenschaft und kunst sind keine gegensätze mehr. das gleiche gilt für die technik. wirklich neue explorationsgebiete werden gefunden, wenn akzeptiert wird, dass die eroberungen der wissenschaft vom künstlerischen standpunkt her kein dschungel sind, der nicht urbar zu machen wäre, das ist der ausgangspunkt der konstruktivistischen und spatialistischen richtung. aber hier muss die notwendigkeit eines bewussten strebens nach einer synthese der vorhandenen elemente eingesehen werden, die eine evolution auf menschlichem niveau möglich machen. (individuum und kollektives experiment) es bestehen bereits vorbilder einer vorzüglichen integration von kunst und architektur. auch untereinander integrieren die künstler ihre kreativen möglichkeiten, was manchmal zu kollektiven arbeiten führt. "die zeit einseitiger bewegungen ist vorbei" schrieb lucebert anfangs der fünfziger jahre, aber seine worte scheinen sich erst heute auf ganz andere art zu verwirklichen, als er meinte.

in anderen gebieten der kunst geschehen gleichartige dinge. es wäre die mühe wert, dichter, schriftsteller, filmkünstler, bildende künstler, komponisten und philosophen zusammenzubringen zu einer manifestation des wirklich zeitgemässen geistes.

widerstand ist nicht wenig vorhanden. man deutet auf den zusammenhang mit arbeit und auffassungen der russisch-polnischen avant-garde und das ist zum teil richtig. aber liegt die wesentliche bedeutung unserer aktivitäten in der absoluten originalität? auch ist nicht an erster stelle nötig, zu erkennen, was übernommen und verarbeitet wurde, was wiederentdeckt und neu ist. wichtiger ist, was nun geschieht und dass es geschieht. man spricht zu unrecht über den inhumanen charakter der arbeit. es ist nur ein streben, die persönlichkeit des arbeitenden zurücktreten zu lassen zugunsten anderer. man deutet in richtung einer massenkunst. aber ist die masse zu verachten? wer ist die masse? das sind sie und ich und er. die masse sind die anderen, das individuum ausgenommen, das jeder für sich ist.

das individuum muss innerhalb seiner grenzen platz haben für sich selbst und es ist unsere aufgabe, ihm zu helfen ihn zu finden ohne probleme.

source: herman de vries, 'visuelle information', in herman de vries. to be : texte - textarbeiten - textbilder (Stuttgart 1995) 40-45. Originally published as 'visuele informatie / visual information / visuelle information / information visuelle', in integration 1 'aktuell 65' (January 1965) 3-18. Also published in Dutch in exhibition catalogue Toevals-objektiveringen Herman de Vries, Arnhem ('t Venster : Rotterdam, 1967) [37-39].