nackt fühlt man sich freier (1984)

herr de vries, 1966 führten wir ein gespräch mit dem arbeitstitel "interview in sachen zufall" (magazin kunst, nr. 22/24 - '66. s. 47). seit dieser zeit hat sich das erscheinungsbild ihrer arbeit sehr verändert. beginnen wir aber doch einmal mit ihren anfängen, bevor wir uns ausführlicher mit den letzten ausstellungen befassen.

kurz gesagt, anfang der 50er jahre habe ich mit malen angefangen, das ließ sich später als 'informel' einordnen. durch immer stärkere reduktion der mittel wurden die bilder ende 50er jahre weiß und leer, auch inhaltlich leer. da war die verbindung mit zero vor der hand liegend. allerdings für mich war zero eine gegensatzlosigkeit, ein existenzniveau. meine damaligen weißen bilder sind eigentlich der drehpunkt, der ausgangspunkt für alles spätere, worauf ich als hinweis - auch und ins besondere bei sprache experimenten und philosophische untersuchungen - immer wieder darauf zurück gekommen bin. es ist für mich persönlich meine wichtigste zeit gewesen und ich hoffe immer noch, mal so weit zu kommen, dass ich wieder leere weiße bilder machen kann.

doch damals war es, glücklicherweise, nicht etwas um als eine art stil zu reproduzieren. ich war voller untersuchungslust und viel zu experimentierfreudig, um bei diesem punkt bleiben zu können. Die uneingeschränkte freiheit für den betrachter, diese objektivität, wollte ich jedoch festhalten. erst entstanden darauf weiße homogene strukturen und dann, am anfang eigentlich in mentalität eng mit zero verbunden, die zufalls-objectivierungen. das war 1962. anfang der siebziger jahre wurde ich dann interessiert im dokumentieren von chance und änderung, geschehen in der wirklichkeit. anfangs noch eng mit der zufallsbetrachtung verbunden und daraus auch hervorkommend. später immer mehr selbständig davon stehend. erst in photoserien, anschließend als wirklichkeit-als-dokument-von-sichselber. 1975 machte ich die letzten 'random-objectivations'. in notizen lag noch arbeit für viele jahre bereit, aber die erfahrungsergebnisse aus der arbeit fragte nach anderem research und anderen formulierungen.

sie sagen erfahrung aus der arbeit. was ist zufall?

eigentlich möchte ich mal wieder dürer paraphrasieren: "was der zufall ist, das weiß ich nicht". das wird sie wohl nicht befriedigen als antwort, aber nachdem ich den "zufall" erstmal als mittel für objektive, also sinnleere, bilder gebraucht habe, habe ich angefangen, mich für den zufall selber zu interessieren. alle theorien und definitionen waren dann unbefriedigend. nach 14 jahren arbeit kam ich zum abschluss, dass der "zufall" nur ein hilfswort ist für das, was wir nicht fassen können, für das, was aus einer vernetzung kausaler prozesse entsteht - zu komplex in ihren zusammenhängen, ursächlichkeiten, ist.

führt sie das zur annahme eines determinismus?

also! da habe ich uns gerade befreit von einem begriff und da wird der nächste anzug schon passfertig gemacht! nackt fühlt man sich freier.

das ganze ist wohl ein problem der sprache, der begriffsbildung?

die sprache ist ein mächtiges instrument und zweiseitig schneidend. sie verteilt alles in dies und das, du und ich, ja und nein, dort und hier und verschafft uns damit erst die möglichkeit kollektiven eingriffs. aber sie feilt uns damit auch ab. die welt ist nicht mehr ganz. sie "zerfällt in tatsachen" wie wittgenstein das so deutlich formuliert hat. die begriffe greifen. die Leute eines nordamerikanischen indianer-stammes meinten, man muss wenig sprechen, vorsichtig mit seinen worten umgehen, weil sie zauberkraft haben!

mir hat die sprache sehr viele probleme gebracht - und kopfschmerzen durchs denken. seit ich vor einer anzahl von jahren die philosophie aufgegeben habe, habe ich auch keine kopfschmerzen mehr.

zurück zum zufall. gibt es ihrer meinung nach einen persönlichen zufall, das was dem einen zu fällt nicht aber dem anderen?

früher sagte ich, wenn im herbst ein blatt vom baum fällt, sich hin und her bewegt und irgendwo den waldboden erreicht, das ist ein gutes beispiel für zufall. jetzt gebrauche ich dasselbe blatt: der physiologische prozess des baums, der das blatt abstösst, die außentemperatur, der wind, die form des blattes, usw. das alles bringt das blatt genau auf den platz wo es gesetzmäßig hingehört! es ist alles ursächlich bestimmt. Es musste genau dann da hinkommen wo es hinkommt. Das kann ich nicht "zufällig" nennen. Aber wo kommt das wort zufall her? Es stammt aus der mitte hochdeutscher mystik. zu-oval. ist verbunden mit dem lateinischen accidens. es wurde gebraucht für äußerlich hinzukommendes. zu fall. also in diesem sinn gibt es natürlich vieles, das für jeden anders zu fällt, ohne dass man das erklären kann.

bevor wir auf die folgenden arbeiten kommen. stehen die 'random objectivations' in einer beziehung zum konstruktivismus?

schon mitte der 60er jahre gab es das missverständnis, ich sei ein konstruktivist, weil ich rechte linien verwendete. um sauber visuelle untersuchungen zu verrichten, war das auch nötig, aber es ist kein grund, um einen dann auf so eine oberflächliche weise als konstruktiv einzuordnen. es ist öfters geschehen, aber selber habe ich mich nicht daran beteiligt. 'systematische programme', das war korrekt, sagte nur die arbeitsweise aus, war keine stilvorschrift. jedenfalls für mich nicht. wenn ich dann mal "my poetry is the world" für das erste mal publizierte, da haben mich z.b. englische kollegen ins verhör genommen wie die inquisition. für sie war das system schon eine stilvorschrift.

und wie ist es mit der konkreten kunst?

konkret ist es wohl, was ich tue. aber, ob es in die definition der konkreten kunst fällt oder auch neuen konkreten oder postkonkreten kunst, das weiß ich nicht. ich bemühe mich wirklich nicht so sehr um solche abgrenzungen. für mich ist das, was verbindet, viel wichtiger.

sie haben auch photographiert.

als dokumentation von prozessen. nicht als photographie. ich meine, eher als reproduktionsreihen, nicht als eigentliche arbeit. die arbeit war schon da getan, wo ich's photographiert habe.

herkömmlich wird zwischen kunst und natur peinlich getrennt. es macht den "rang" der kunst geradezu aus. "künstlich", "artifiziell", also speziell vom menschlichen hirn "verantwortet" und "geschaffen" zu sein.

aber warum diese abgrenzung? kunst und natur rühren doch von bewusst sein her.

das beantwortet meine frage nicht. ich muss das "bewusstsein des betrachters" als ausgangspunkt der frage nehmen. oder wollen sie sagen, dass es für den betrachter egal ist, ob ein stein von einem bildhauer gestaltet oder nur so gefunden ist, enthalte er nur ausreichend viele sensible anknüpfungspunkte? kann er also einfach eine wurzel aus dem moor oder ein blatt vor der haustür aufheben?

ja klar soll er das blatt aufheben - und die ganze welt geht mit - oder er kann es auch liegen lassen. das hängt von seiner bewusstseinslage ab. für mein teil, ich bin nur vermittler. die wirklichkeit ist ihr eigenes dokument. soll ich daran noch was hinzufügen? alles was man wissen will, wissen kann, ist schon gegeben. wunderbar! im übrigen, in anderen kulturen ist das nicht immer so absonderlich. in japan gibt es z.b. steine sammler und ausstellungen von steinen. das ist dort sehr wohl eine künstlerische tätigkeit.

um es locker zu sagen: sie zeigen in ihrer ausstellung in der galerie hoffmann in friedberg unter anderem am strand gesammelte basaltsteine. einem besucher ging es durch den kopf: da sieht man diese wunderschönen steine und dann muss man an diese bildhauer denken, denen das nicht genug ist, sondern die da unbedingt noch ein loch bohren müssen.

jawohl. karl prantl (mit aller achtung für karl und seine arbeit) habe ich noch längeren diskussionen dann mal eine ansichtskarte von einem bergmassiv geschickt mit dem kommentar "was fällt hier noch zu hacken karl?" diese steine aus gomera sind so entstanden. basalt, sehr hart. haben immer zusammen gerollt. einander geschliffen in ebbe und flut. wie lange? ich weiß es nicht.

nun gut. akzeptier ich einmal den betrachter als seinen eigenen künstler. was soll dann eigentlich jetzt ihre tätigkeit, wo liegt die gesellschaftliche relevanz?

jedermann sein eigener künstler. das wäre wie bei den comanchen "jeder mann sein eigener priester". sehr gut! aber in dieser lage befinden wir uns jetzt leider nicht.

die randgruppen, die randerscheinungen sind für unsere gesellschaft lebenswichtig. ohne diese keine dynamik, keine weiterentwicklung, "keine experimente", wie ludwig erhardt sagte, geistige stagnation. es freut mich am rande, im niemandsland zu arbeiten - und ich bin überzeugt, dass das sinnvoll ist - auch wenn ich nicht bei jeder handlung nach dem sinn frage. sowieso, das, was bei einer arbeit nebenbei entsteht - abfall sozusagen - ist ebenso aussagereich als das arbeitsresultat selber.

manche fühlen ihre arbeit von meiner in frage gestellt. ich habe aber nichts gegen eine antwort auf so eine frage.

zurück zur frage. wenn auch nicht jedermann sein eigener priester ist, so zwingen sie mich jetzt hypothetisch für meinen teil in diese rolle. dann suchen sie praktisch die steine nur aus für diejenigen, die das nicht können?

und mindestens auch für diejenigen, die sich daran freuen!

es bleibt das fundstück aus der natur. sie machen es auch nicht per deklaration zu ihrem werk, führen es praktisch durch diese art konzeptueller geistiger aneignung in den "kunstbetrieb" ein. ist das richtig?

nicht nur das, was man denkt, was man macht, gehört zu seinem konzept, auch das, was man sieht, ist ein teil davon. im übrigen, kunst kommt von k ö n n e n. ich bin aber froh über je diese begrifflichen grenzen von kunst oder nicht-kunst hinweg gekommen zu sein. schon in 1972 schrieb ich "die welt ist meine poesie". man hat scheinbar viel zeit nötig, um sich an sowas zu gewöhnen.

ob man von kunst oder nicht-kunst spricht oder von einer nicht-kunst kunst usw., das is mir egal. aber dass man es nicht weiß ob es so oder so klassifiziert werden kann, das finde ich jetzt ganz gut.

wieso?

durch den spalt kann das bewusstsein herausquellen.

in ihre letzte große, noch nicht abgeschlossene arbeit 'natural relations' wird von der niederländischen regierung aus dem etat für 'kunsterneuernde projekte' finanziert. wenigstens nach dieser terminologie sind sie nicht so weit weg von der kunst wie es jetzt aussieht.

ja? sieht es so aus? immerhin kann man kunsterneuerung nicht mit traditionellen maßstäben betreiben. 'natural relations' aber ist auch interdisziplinär: nicht nur visuelle darstellung, aber dazu auch volkskenntnis in bezug zur pflanzenwelt, also die integration von kollektiver kenntnis, resultat einer in vielen generationen lang gesammelten e r f a h r u n g. weiter botanik, ethnologie, mythologie, geschichte der religion und pharmakologie. das sind gebiete, worin ich schon länger arbeitete oder mich die letzten jahre, soweit es nötig war, eingearbeitet habe. dazu kommt noch der transkulturelle aspekt: die arbeit übergreift mehrere kulturkreise. wenn sie das kunst nennen wollen: o.k. aber was ist dann kunst? wie vorher gesagt, mir geht's um bewusst sein.

lassen sie mich zum schluss noch einiges rekapitulieren anhand der beiden ausstellungen, die jetzt laufen. was können sie zusammenfassend und erläuternd a) zur auswahl und präsentation in der galerie hoffmann, friedberg, sagen und b) zu ihrem beitrag 'von hier aus' - düsseldorf?

bei hoffmann zeige ich eine übersicht, also, komplett ist das nicht, von dem, was ich in den letzten zehn jahren so getan habe. das sind u.a. 'steine von gomera', blattreihen - es wiederholt sich nie eine form! - bilder von gefallenen blättern, 'from earth' - erdausreibungen. die sind sehr aufschlussreich. da schauen menschen hin, und sehen viele farben, menschen aus meinem dorf, und können fast nicht glauben, dass das alles aus ihrer eigenen direkten umgebung stammt. und dann ist da ein fenster in der ausstellung mit einem ausblick. dieser ausblick ist teil der ausstellung. auf 'von hier aus' gibt es drei arbeiten, das 'große rasenstück', der titel stammt tatsächlich von dürer, ist ein getrockneter gepresster schnitt einer wiese. dann 'rosa damascena', eine fläche mit 108 pfund trockenen rosenblüten. der geruch nimmt übrigens mehr raum ein als die blumen. und dann ist da die sammlung 'mind moving': pflanzliche geistbewegende substanzen. was soll ich da hinzufügen? das medium ist die botschaft.

ganz am ende noch eine frage, die vielleicht auch mit 'mind moving' zusammenhängt. ihre arbeit "lebt" davon, dass darin die grenzen zwischen naturkunst-wirklichkeit aufgehoben sind. - nur davon?

ist das nicht das "klassische ziel" von meditation oder der einnahme von "geisterweiternden" drogen?

erstens, an ein ziel denke ich überhaupt nicht. während ein paar tagen, 1962 in amsterdam, hatten piero manzoni und ich intensive und meistens auch ganz lustige gespräche. über unsere "gesellschaftliche funktion" kamen wir damals bereinstimmend auf das wort d e k o n d i t i o n e r e n. freiheit ist der zustand, von wo aus alles wieder möglich wird. meditation, geistbefreiende drogen, alles, was uns von unseren konditionierungen freisetzt, gibt uns einen n u l punkt. 'von hier aus' kann man neu anfangen. in jede richtung gehen und auch über schranken hinweg das ganze als solches erfahren. es gibt welche, denen passt sowas nicht. marxisten, konservative eingeschlafene kunstkritiker und schmalspurkollegen. aber auch diese gehören zum bild - ob sie wollen oder nicht. nur, ich bin kein teil ihrer szene, ich lebe weit entfernt im abseits.

source: Alexander Baier, 'nackt fühlt man sich freier. interview von alexander baier meit herman de vries 1984', in herman de vries. to be. texte, textarbeiten, textbilder (Cantz : Ostfildern 1995) 100-104.