[Herman de Vries arbeitet ...] (1974)

Herman de Vries arbeitet mit einer Kompositionsmethode, die eine möglichst vollständige Elimination seines persönlich-subjektiven Einflusses garantiert. In seinem künstlerischen Konzept spielen Zufall, Objektivität und Wirklichkeit eine entscheidende Rolle. Bildbetrachter und Künstler sollen frei sein, der Künstler will seinem Publikum keine subjektive Weltanschauung mehr aufdrängen. Der Betrachter soll die Realität so erfahren können wie sie ist: ohne Mystik, ohne Unklarheit. Den Betrachter seiner Werke zu eigener schöpferischer Aktivität anzuregen ist seit je eines der zentralen Anliegen von Herman de Vries.

Wenn er in seinem künstlerischen Konzept darauf achtet, subjektive Entscheidungen möglichst vollständig zu eliminieren, so deshalb, weil er die Wirklichkeit möglichst objektiv vermitteln will.

Herman de Vries nennt seine Arbeitsmethode 'random-objectivation'. Er deutet damit die Absicht an, größtmögliche gestalterische Freiheit zu erreichen. Um diese an sich subjektive Freiheit zu objektivieren, bezieht er den Zufall als mitbestimmenden Faktor in seine Gestaltungsmethode ein. Er stÜtzt sich hierbei auf Tabellen aus einem 1953 erschienenen Buch von R.A. Fisher und F. Yates: 'statistical tables for biological, agricultural and medical research'.

Die von Herman de Vries benützten 'random numbers' werden in der Forschung angewandt um bei Experimenten Einfluß und persönlichen Anteil des Untersuchenden soweit wie möglich auszuschalten. Herman de Vries benützt diese 'random numbers' als Quelle des unpersönlichen Zufalls. Seine Methode der Zufallsobjektivierung wird gewissermaßen zu einer Philosophie der visuellen Gestaltung.

Er wendet diese Methode konsequent in allen seinen küstlerischen Tätigkeitsbereichen an: sowohl bei der Gestaltung von Objekten und Reliefs, als gleichermaßen bei seiner Beschäftigung mit Sprachelementen oder für seine fotografischen Arbeiten.

Die Systematik in der Arbeitsweise bei Herman de Vries kann bis zu einem gewissen Grad mit Richard Paul Lohses Gestaltungssystematik verglichen werden: auch Lohses kompositorische Systematik regelt die Beziehungen zwischen Bildelementen (Farbe, Quantität) und Bildfläche in ähnlich objektivierter Weise, wie dies charakteristisch ist für Beziehungen zwischen Form und Strukturen in Herman de Vries Arbeiten.

Zudem liegt bei beiden Künstlern der Nachweis geistiger Verwandtschaft mit Piet Mondrian auf der Hand.

Die eigentliche, und unseres Erachtens größte, Bedeutung von Herman de Vries Kunst liegt jedoch in dem seinem Werk zugrunde liegenden theoretischen Konzept: dem Streben nach vollkommener, ein Höchstmaß an Freiheit garantierender Objektivität, welches in kontinuierlicher Linie sein ganzes und äußerst differenziertes künstlerisches Werk durchzieht.

Auch die auf den ersten Blick für sein Werk untypisch erscheinenden Fotoserien 'seeings of my be[e]ings' oder 'chance and change situations' folgen dem nämlichen theoretischen Konzept wie seine strengen Rasterzeichnungen oder Reliefs. In Herman de Vries Kunst ist die Wirklichkeit da, ohne sich aufzudrängen, bereit, sich dem zu offenbaren, der Willens ist zu sehen.

Urs und Rös Graf,
Bern, April 1974.

source: Urs and Rös Graf, '[Herman de Vries arbeitet mit einer Kompositionsmethode ...]', text written in 1974 and published in exhibition foldout for Galerie Lydia Megert zufallsprogramme (1974); also in herman de vries : arbeiten 1962-1976 (galerie hermann : fürstenfeldbrück 1976) and an extended version on the cover of the LP 'water. the music of sound 1' (1977).