fragmentarische argumente (1968/1995)

zeit. es fehlt uns die zeit, auch nur die ausgewählte literatur zu lesen, die zur allgemeinen orientierung notwendig wäre, eine verantwortliche positionsbestimmung in der welt zu erreichen. und wie auch sollen wir diese literatur auswählen? sie ist zu überwältigend umfangreich, zu differenziert, um eine ausgewogene auswahl treffen zu können. selbst das material und die zeit für eine auswahl fehlen uns. zahllose spezialisten machen obendrein einen einblick für die außerhalb der spezialisierung stehenden schwierig, manchmal unmöglich. lesen, selbst systematisch selektiv, ist für die auswahl zu einer frage von c h a n c e geworden. (ist deshalb das moment der direkten visuellen erfahrung wieder so viel wichtiger geworden? ich frage das nur.) dasselbe gilt mehr oder weniger auch für die anderen kommunikationsmittel.

feste sicherheiten sind für keinen aufrichtig denkenden menschen mehr möglich. wo es sie doch gibt, sind sie in ihrer beschaffenheit illusorisch. die erforderliche konsequenz hieraus ist, daß wir die c h a n c e, den zufall, als ein element unserer kultur begreifen müssen. begreifen meint auch verarbeiten. wir werden uns dessen bewußt werden müssen und damit arbeiten, das so zu kultivieren.

es wird dann klar werden, daß c h a n c e ein bereicherndes, diffenzierendes und vor allem konfrontierendes element bildet. das aufeinanderprallen von immer mehr nicht deckungsgleichen, manchmal kontroversen anschauungen innerhalb einer kultur wird aber auch befruchtende und relativierende auswirkungen haben und zu einer daraus folgenden, jederzeit wieder teilbaren phase von o r d n u n g führen. schrödinger [Erwin Schrödinger, Science and The Human Temperament / translated by James Murphy (London/New York 1935)], zitiert nach born [Alfred M. Bork, 'Randomness and the twentieth century', in The Antioch Review 27, No. 1 (Spring 1967) 40-61; ICA Bulletin 175 (London) 7-16], macht eine in diesem zusammenhang interessante bemerkung: "in his long pursuit of order in nature, the scientist has turned a corner. he is now after order and disorder without prejudice, having discovered that complexity usually involves both." born sagt darüber, daß ... "the two are not necessarily opposed, and that randomness can be a tool for increasing order." dieser gedanke scheint vortrefflich in eine form des denkens und handelns zu passen, die wir demokratisch nennen. ein begriff, der allerdings nicht mehr nur eine regierungsform bezeichnet. diesem gedanken kommt ein ausspruch von mao [Mao Tse-Tung, Het rode boekje (Utrecht 1967)] nahe. "die politik, täglich hundert blumen blühen zu lassen und hundert schulen wetteifern zu lassen ist eine politik zur förderung der entwicklung von kunst und wissenschaften ...".

das bedeutet, nicht mehr eine alles umfassende übersicht anzustreben, sondern immer nur vorläufige positionen einzunehmen, die sich im nächsten moment, beim erscheinen neuer gegebenheiten, wieder verändern können. die folge ist ein reichtum im denken und handeln, der eine enorme dynamik in sich birgt. alle sicherheiten früher waren nur scheinbar, stabilität war stillstand. die allgemeine auswahl von früher wird heute ersetzt durch eine ganze reihe von verschiedenen auswahlmöglichkeiten. eine absolute 'gültigkeit' gibt es nicht mehr, die geschichte bekommt dadurch einen mehr synchronen, als nur chronologischen charakter.

eine kinetische gesellschaft, die kenntnis hat von etwas wie der brownschen bewegung, hat bis heute keinen politisch-sozialen einfluß, aber dennoch kann die gesellschaft an den konsequenzen, die sich daraus ergeben, nicht vorbeigehen.

wenn wir die geringe koordination auf jeder gesellschaftlichen ebene, die zerbrechliche orgonisation und kommunikation, das aneinander vorbeiarbeiten von organisationen und instanzen betrachten, dann deutet der begriff ordnung mehr auf eine gewachsene erfahrungswelt als auf eine tatsächliche faktizität.

welchen standort hat die kunst in unserem gesamten gesellschaftlichen zusammenhang? mcluhan [Marshal McLuhan, Media begrijpen. De extensies van de mens (Utrecht 1967); Dutch translation of Understanding Media: The Extensions of Man (1964)] führt hierfür ezra pound an, der den künstler als 'das tastorgan unserer gattung' bezeichnet. "wie das radar", sagt mcluhan, "funktionieren künstler als eine art frühwarnsystem und geben uns die chance, soziale und psychische zweckmäßigkeiten aufzuspüren und somit reichlichzeit, uns darauf vorzubereiten und ihnen die stirn zu bieten ... wir dürfen aber nur die teile davon nutzen, die unsere wahrnehmung für den überblick über die psychischen und sozialen folgen schärfen. kunst im sinne eines umgebungsradars dient eher der notwendigen öffnung der wahrnehmung, denn als speise einer bevorzugten elite.

für die zeitschrift leonardo [Leonardo no. 186 (London 1968)] habe ich bildende kunst ('fine, visual, arts') kurzerhand als 'v i s u e l l e   i n f o r m a t i o n' definiert. in einem früheren artikel [herman de vries, 'visuele informatie / visual information /...', in revue integration n° 1 (January 1965) 'Aktuell 65', 3-18] habe ich auf die kybernetische funktion der kunst hingewiesen. schematisch wäre das ungefähr so vorzustellen:

die funktion, die kunst von alters her als mittler zwischen mensch und reolität hatte, paßt ganz und gar da hinein. auch durch diese vermittelnde funktion entstehen signale.

constant [Het Vrije Volk May 19, 1967] hat über künstler und gesellschaft und insbesondere üer die avantgarde geschrieben, daß ... sobald die obrigkeit einen künstler hofiert, es bedeutet, daß er unschädlich geworden ist. eine gefahr ist auch, daß die falschen menschen hofiert werden. künstler gehören zum revolutionären teil der gesellschaft, wie kann die obrigkeit sie dann fördern?" obwohl aktuell richtig, hat dieser gedanke constants für mich keine absolute gültigkeit. ich kann mir sehr gut eine obrigkeit vorstellen, die die jeweils neueste entwicklung, jede revolutionäre form des denkens und handelns fördert, sogar wenn sie gegen sie selbst gerichtet wäre, weil sie sicher ist, daß eine fortdauernde dynamische erneuerung eine gesellschaftliche lebensnotwendigkeit ist. der begriff 'obrigkeit' und der damit zusammenhängende begriff 'macht' werden sich dann grundlegend ändern müssen, das ist offensichtlich. ich glaube fest, daß dieser gedanke gut in die städtische, spielende welt paßt, in constant's 'new babylon' [Constant, 'New Babylon' in Randstad. Driemaandelijks N° 2 (1962) 127-138]. in seiner schilderung finden wir übrigens, um auf den anfang dieser argumente zurück zu kommen, zahllose aspekte, die sich letztlich auf c h a n c e gründen.

die f o r m u l i e r u n g   v o n   c h a n c e in der kunst ist in den letzten jahren von einer ganzen reihe von menschen auf verschiedene weise und von verschiedenen ausgangspunkten unternommen worden. ich nenne nur die komponisten john cage und earl brown, letzterer mit seinem stück 'indices' von 1952, die computergrafiker noll und nake und andere.

allgemein können wir feststellen, daß es eine neue tendenz in der bildenden kunst ist, auf verschiedene weise das prinzip der chance visuell zu formulieren, manchmal auch anzuwenden. im allgemeinen fürt das, meistens absichtlich, zu dem, was wir 'offene formen' nennen können, d.h. formen, die frei sind für eine für eigene interpretationen des betrachters. offene formen für eine offene kultur. das ist in etwa der gedankengang, der mich zu meinen reinweißen bildern von 1962 führte, zur 'random objectivation'. es handelt sich dabei um eine methode, entlang eines objektiven weges, mittels vorprogrammierten zufalls, zu bildern, zu visueller information zu kommen, wobei das ergebnis den betrachter, den, der das werk erfährt, nicht in eine bruchstückhafte, persönliche sicht einpferchen will, sondern es ihm überläßt, seinen standpunkt zu finden. die anwendung dieser methode ist ein versuch, zu einer kunst mit dem größtmöglichen maß an allgemeingültigkeit zu gelangen.

es ist mir durchaus klar, daß all unser handeln und denken zu einem großen teil auf dem reflektieren beruht und daß diese 'objektivierungen' keine ausnahme davon machen. das beeinträchtigt aber nur sehr wenig ihr ziel und ihre bedeutung.

die quelle des zufalls, die ich benutze, ist die tabelle XXXIII aus fisher und yates buch 'statistical tables for agricultural, biological and medical research'. darin stehen 15000 zahlen in zufälliger folge, statistisch auf tatsächliche zufÄlligkeit überprüft. es gibt noch andere möglichkeiten. winiarski in warschau zum beispiel benutzt würfel. es gibt noch mehr werke, die tabellen wie oben erwähnt, anbieten. das bekannteste ist das buch der rand corporation, das eine million zahlen in zufälliger folge enthält [A million random digits with 100,000 normal deviates (RAND Corporation : Glencoe Ill. 1955)]. es wird normalerweise benutzt bei bestimmten methoden der probenentnahme, für stichproben, zur behandlung von statistischem material, simulationsmodellen, zur anordnung von versuchen etc. was ich mit meinen zufallsprogrammen mache, besteht eigentlich darin, eine ordnungsidee (das programm) durch den zufall ordnen zu lassen [herman de vries, 'random objectivations', in nul = 0. tijdschrift voor de nieuwe konseptie in de beeldende kunst / revue pour la nouvelle conception artistique ... 1, n° 2 (1963) 34-35; herman de vries, 'objektiviteitt en werkelijkheid', in exhibition catalogue Toevals-objektiveringen Herman de Vries, Arnhem ('t Venster : Rotterdam 1967) [31-33].

was ist wichtiger, das huhn oder das ei? ein zen-weiser würde vielleicht sagen "huhn=ei oder ist ei=huhn ..." ich meine, daß der zufall einen integrierenden teil der totalität ausmacht, den wir gewöhnlich als ordnung bezeichnen. wo o r d n u n g zu stark wird, tritt das kybernetische prinzip in kraft und schaltet überall menschen ein, die den z u f a l l und die c h a n c e integrieren, menschen, die die 'ordnung' stören, die offene formen wünschen, freie identität in der kunst, in der kultur, in der gesellschaft, in der metaphysik, im denken.

heute sind, denke ich, offene formen äußerst erwünscht. sie entstehen überall, zuerst in der kunst. diesen neuen kulturaspekt in seinen zufälligkeiten zu stabilisieren (was ein feiner widerspruch), ist vielleicht eine der fruchtbarsten sozialen aktivitäten, die augenblicklich entwickelt werden können.

arnheim, febr. 1968

source: herman de vries, 'fragmentarische argumente', in herman de vries. to be : texte - textarbeiten - textbilder (Stuttgart 1995) 26-29. Originally published in Dutch 'fragmentarische argumenten', in Felison-kahier n° 10 (IJmuiden 1968) 2-6. Reprinted in exhibition catalogue herman de vries. random objectivations (Kunsthistorisch Instituut : Amsterdam 1970) 5-9.